Zum Hauptinhalt springen

Diagnose mit Placebos

Nicht-Zöliakie-Gluten-Überempfindlichkeit (NCGS) ist ein ziemlich langer Name für eine Krankheit, von der nach heutigem Stand niemand sagen kann, ob sie überhaupt existiert. Ein Positionspapier namhafter deutscher Allergologen will jetzt für mehr Klarheit sorgen.

Zöliakie ist eine Autoimmunerkrankung. Sie zwingt Betroffene, lebenslang auf Gluten-haltige Nahrung zu verzichten, wenn sie Bauchschmerzen, Blähungen oder Übelkeit verhindern wollen. Doch viele Menschen vermeiden Gluten freiwillig, obwohl bei ihnen nie eine Zöliakie diagnostiziert wurde - und sie fühlen sich damit besser. Diese Form der Selbstdiagnose und –therapie hat zu einem Boom in der Nahrungsmittelindustrie geführt. Heute gibt es mehr als 3000 glutenfrei hergestellte Lebensmittel. Jetzt hat sich dazu eine Arbeitsgruppe der  Deutschen Gesellschaft für Allergologie und klinische Immunologie zu Wort gemeldet. Der Grund: Menschen, die ohne ärztliche Diagnose und Begleitung auf Gluten verzichten, könnten eventuell ihrer Gesundheit schaden. Nicht nur besteht die Gefahr, dass eine unbedingt behandlungsbedürftige Zöliakie unentdeckt bleibt sondern die Ernährungsumstellung könnte in eine Essstörung münden. Ebenso könnte sich eine Verstopfung ergeben oder verschlimmern. Das Risiko für Störungen des Fettstoffwechsels ist ebenfalls erhöht. Studien aus den Jahren 2017 und 2018 haben zudem gezeigt, dass sich im Körper von Menschen, die eine glutenfreie Diät befolgen, verstärkt Schwermetalle ansammeln.

 

Diagnose im Ausschlussverfahren

Was also tun, wenn man glaubt, auf Gluten verzichten zu müssen? Da es für NCGS keine wissenschaftlich fundierten Diagnose-Kriterien gibt, rät die Arbeitsgruppe zu einer Ausschlussdiagnostik. Neben der Zöliakie gibt es noch fünf weitere Nahrungsmittel-assoziierte Erkrankungen, die Übelkeits-Symptome verursachen. Darunter sind das Reizdarm-Syndrom, entzündliche Darmerkrankungen, Weizenallergie, Laktoseintoleranz/Fruktosemalabsorption und Störungen der Darmbewegung (Motilität). Wenn der Arzt oder die Ärztin diese ausgeschlossen und anhand eines Ernährungs- und Symptomtagebuches festgestellt hat, dass auch keine ungesunden Essgewohnheiten vorliegen, folgt der diagnostisch zweite Schritt: Provokationstestungen.

Hier rät die Arbeitsgruppe, den Patienten zunächst einige Placebos ohne den Inhaltsstoff Gluten zu verabreichen. Der Grund: Viele Betroffene sind derart überzeugt, Gluten nicht zu vertragen, dass sie zunächst auf jede Provokation mit Krankheitssymptomen reagieren. Erst wenn sie mehrmals erfahren, dass in der Testsubstanz gar kein Gluten enthalten war, wankt diese Überzeugung und die Ergebnisse werden verlässlicher.

Eine Lösung für die Magen- und Darmprobleme kann auch darin liegen, verstärkt Fasern aus Gemüse zu sich zu nehmen anstatt aus Getreide. Selbst die Hersteller glutenfreier Backwaren setzen ihren Produkten lösliche Pflanzenfaserstoffe zu.

 

Forschung im Konflikt der Interessen

Das Papier der DGAKI-Arbeitsgruppe bezieht damit ganz bewusst eine Gegenposition zu der Initiative eines bekannten Herstellers glutenfreier Nahrung. Dieser hatte im Jahr 2012 einige Wissenschaftler zu einem Treffen eingeladen und dafür sowie für die Veröffentlichung des auf dieser Tagung entstandenen Manuskripts zur NCGS die Kosten übernommen. Auch zwei Folgetreffen wurden organisiert und unterstützt. In den resultierenden Veröffentlichungen hatten die Spezialisten das Vorhandensein eines NCGS-Krankheitsbildes postuliert und detaillierte Diagnose- und Therapievorschläge gemacht. Die DGAKI-Arbeitsgruppe hält diese nicht nur aus fachlichen Gründen für zu kurz gegriffen. Sie bemängelt auch, dass unklar bleibt, in welchem Maße die wirtschaftlichen Interessen des Sponsors Einfluss nahmen.

 

 

Quellen:

Reese, I. et al.: Non-celiac gluten/wheat sensitivity (NCGS)—a currently undefined disorder without validated diagnostic criteria. Position statement of the task force on food allergy of the German Society of Allergology and Clinical Immunology (DGAKI). In: Allergo Journal International. online veröffentlicht am 28 Mai 2018


Sapone, A. et al.: Spectrum of gluten-related disorders: consensus on new nomenclature and classification. In: BMC Medicine 2012, 10:13


Catassi, C.: Non-Celiac Gluten Sensitivity: The New Frontier of Gluten-Related Disorders. In: Nutrients 2013, 5, 3839-3853