Wie verbreitet ist eine Nahrungsmittelallergie?
Wissenschaftliche Beratung: Prof. Dr. Margitta Worm und Dr. Imke Reese

Echte Nahrungsmittelallergien sind nicht so häufig wie vermutet. Während in Befragungen rund 30 Prozent der Bevölkerung angeben, sie würden unter einer Nahrungsmittelallergie leiden, sind nachweisbare Reaktionen deutlich seltener.
Im Jahre 2004 ergänzten Berliner Forscherinnen und Forscher die Befragung durch umfangreiche Diagnostik mit Labor- und Provokationstests. Ergebnis: Die Rate der tatsächlichen Nahrungsmittelallergien unter Beteiligung des Immunsystems lag bei Erwachsenen mit zirka drei Prozent und bei Kindern mit vier bis sechs Prozent deutlich niedriger, als nach den Befragungen anzunehmen war. Bei Säuglingen liegt sie bei zirka 1,2 Prozent. Wahrscheinlich werden einerseits harmlose Symptome überinterpretiert, andererseits sind viele der Beschwerden vermutlich nicht allergischer Natur, sondern auf andere Unverträglichkeiten zurückzuführen.
Ein überraschendes Ergebnis einer nordamerikanischen Studie: Bei jeder zweiten Person, die angab, unter einer Allergie zu leiden, hatte sich die Symptomatik erst im Erwachsenenalter entwickelt. Als Anzeichen einer echten Allergie werteten die Forschenden unter anderem Symptome wie Urtikaria, Schwellungen, Schluckschwierigkeiten, Brustenge, Atembeschwerden, Keuchen, und Ohnmacht nach Verzehr bestimmter Lebensmittel. Beschwerden wie Durchfall, Blähungen und Bauchkrämpfe sprachen aus Sicht der Forscher dagegen eher für eine nicht-allergische Ursache. Ein Manko der Studie ist allerdings, dass die Daten nur auf der Befragung von Personen bestehen und keine fundierte Diagnostik durchgeführt wurde.
Geschlechtsspezifische Unterschiede
Sowohl bei (IgE-vermittelter) Nahrungsmittelallergie als auch bei nicht-allergischer Nahrungsmittelunverträglichkeit werden hinsichtlich Häufigkeit der Symptome und Risikofaktoren Geschlechtsunterschiede beobachtet.
Bis zur Pubertät sind Jungen von Nahrungsmittelallergien häufiger betroffen als Mädchen. Mit fortgeschrittenem Alter, beziehungsweise nach der Pubertät entwickeln mehr Mädchen und Frauen Allergien oder andere Unverträglichkeitsreaktionen in Zusammenhang mit dem Verzehr von Nahrungsmitteln. Wie eine Befragung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen (13 – 21 Jahre) ergab, berichteten weibliche Angehörige dieser Altersgruppe signifikant häufiger über Beschwerden, die allgemein durch Nahrungsmittel ausgelöst werden, als ihre männlichen Altersgenossen (24 gegenüber 14 Prozent).
Erwachsene Frauen mehr als doppelt so häufig betroffen
Frauen erkranken insbesondere häufiger als Männer an Nahrungsmittelallergie, nahrungsabhängiger bewegungsinduzierter Anaphylaxie und Histamin-Intoleranz-Syndrom. Für Nahrungsmittelallergien wurde bei über 18-Jährigen ein Verhältnis weiblich zu männlich von 1 zu 0,53 ermittelt. Bei Nahrungsmittelintoleranz nach der Pubertät zeigen die Daten ein Verhältnis von weiblich zu männlich von 60 zu 40.
Daten aus Deutschland für Erwachsene stammen aus der „Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland“ (DEGS1) als Bestandteil des Gesundheitsmonitorings des Robert Koch-Instituts (RKI). In der ersten Welle der DEGS1 wurden von 2008 bis 2011 mittels Befragungen, Untersuchungen und Tests bundesweit repräsentative Daten zum allergischen Krankheitsgeschehen von 7.988 18- bis 79-Jährigen erhoben. Demnach hatten in ihrem bisherigen Leben mehr als doppelt so viele Frauen eine Nahrungsmittelallergie (6,4 Prozent) wie Männer (2,9 Prozent).
Für die unterschiedliche Häufigkeit von Nahrungsmittelunverträglichkeiten/-allergien werden mehrere Faktoren verantwortlich gemacht, darunter biologische (genetische) wie auch soziale und kulturelle geschlechtsbezogene Faktoren. Neben hormonellen Einflüssen können dabei geschlechtsspezifisches Verhalten, Risikowahrnehmung oder auch die Einnahme von Medikamenten eine Rolle spielen. Auch die Ernährung selbst könnte von Bedeutung sein: So ernähren sich Frauen zu einem größeren Anteil an Früchten, Gemüse und Getreideprodukten als Männer. Darüber hinaus gibt es einige Hinweise für geschlechtsspezifische Unterschiede beim Darm-Mikrobiom.
Wissenschaftliche Beratung
Prof. Dr. Margitta Worm
Deutsche Gesellschaft für Allergologie und klinische Immunologie e.V.
c/o Klinik für Dermatologie, Allergologie und Venerologie, Allergie-Centrum-Charité
E-Mail: margitta.worm@charite.de
Dr. Imke Reese
Deutsche Gesellschaft für Alleroglogie und Immunologie, AG Nahrungsmittelallergie
c/o Ernährung & Allergologie, München
E-Mail: info@ernaehrung-allergologie.de
Quellen:
Die hier aufgeführten Leitlinien und Aufsätze richten sich, so nicht ausdrücklich anders vermerkt, an Fachkreise. Ein Teil der hier angegebenen Aufsätze ist in englischer Sprache verfasst.
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Letzte Aktualisierung:
11. November 2019