Was versteht man unter Nesselsucht, Urtikaria und Angioödem?
Wissenschaftliche Beratung: Prof. Dr. med. Dr. h.c. Torsten Zuberbier

Die Bezeichnung Urtikaria umfasst eine Gruppe von Erkrankungen die durch das Auftreten von Quaddeln, Haut- und Schleimhautschwellungen (Angioödeme) oder beidem charakterisiert sind. Quaddeln und Angioödeme können als Symptom jedoch auch bei anderen Erkrankungen auftreten, z.B. der Anaphylaxie.
Unter einer Quaddel (lateinisch Urtica) versteht man eine von Rötung umgebene, über der Hautoberfläche erhabene Veränderung unterschiedlicher Größe, die ganz ähnlich aussieht wie die Hauterscheinung nach Kontakt mit Brennnesseln – daher auch die Bezeichnung „Nesselfieber“ oder „Nesselsucht“. Sie ist typischerweise begleitet von Juckreiz, manchmal auch einem Gefühl des Brennens. Die Quaddeln sind zumeist „flüchtig“, das heißt sie klingen innerhalb von 30 Minuten bis zu 24 Stunden wieder ab.

Als Angioödem (frühere Bezeichnung: Quincke-Ödem) bezeichnet man plötzlich auftretende, zumeist über größere Flächen ausgedehnte Schwellungen von tieferen Schichten der Haut und/oder Schleimhaut mit normaler Hautfarbe oder Rötung. Es kann prinzipiell an allen Körperstellen auftreten. Bestimmte Regionen sind jedoch bevorzugt betroffen. Dazu zählen Gesicht (Lippen, Augenlider), Hände, Füße, Arme, Beine oder Genitalien. Das Angioödem kann schmerzhaft sein, seltener auch jucken. Ursache für die Schwellung ist ein Austreten von Flüssigkeit aus den Blutgefäßen ins umliegende Gewebe, auch bezeichnet als Ödem. Die Schwellung klingt langsamer ab als Quaddeln und kann bis zu drei Tage anhalten. Angioödeme können lebensgefährlich werden, wenn sie im Bereich der Atemwege auftreten. Ausgeprägte Schwellungen der Zunge oder der Schleimhaut im Kehlkopfbereich behindern dann die Atmung und führen zu Luftnot mit Erstickungsgefahr.
Ein Angioödem tritt häufig als Begleitsymptom einer Urtikaria auf. Es kann aber auch in Zusammenhang mit anderen Grunderkrankungen vorkommen. Häufigste Ursache in diesen Fällen ist ein angeborener oder erworbener Mangel des sogenannten C1-Esterase-Hemmers. Hierbei handelt es sich um ein Eiweißmolekül, das unter anderem an der Regulation der Immunantwort beteiligt ist.
Die Urtikaria ist zu unterscheiden von anderen Krankheitsbildern, die mit Quaddeln, Angioödem oder beiden einhergehen können, beispielsweise Anaphylaxie, Mastozytose, Autoimmunerkrankungen oder dem vererblichen (hereditären) Angioödem (HAE), einem angeborenen C1-Esterase-Hemmer-Mangel.
Weitere Informationen zur Abgrenzung und Einteilung der Urtikaria finden Sie auch im Kapitel zur Diagnostik.
Formen von Nesselsucht oder Urtikaria
Die Nesselsucht lässt sich nach unterschiedlichen Kriterien einteilen.
Hinsichtlich Krankheitsdauer und -verlauf unterscheidet man:
- akute Urtikaria: Dauer bis maximal sechs Wochen
- chronische Urtikaria: Dauer länger als sechs Wochen
In Bezug auf die Auslöser kann man eine spontane, das heißt ohne erkennbaren Grund auftretende, von einer induzierbaren (auslösbaren) Form unterscheiden. Gelegentlich beobachtet man auch Kombinationen von spontanen und induzierbaren Urtikariaformen.
Die chronische spontane Urtikaria ist gekennzeichnet durch das spontane Auftreten von Quaddeln und/oder Angioödemen für eine Dauer von mehr als sechs Wochen. Die Ursachen sind oft nicht bekannt.
Die induzierbare Urtikaria – oft auch bezeichnet als provozierbare Urtikaria – umfasst Formen, die sich durch bestimmte, zumeist physikalische Reize auslösen (provozieren) lassen. Dazu zählen:
- Kälteurtikaria (Kältekontakturtikaria): Juckende Quaddeln oder Angioödeme bilden sich innerhalb weniger Minuten, nachdem die Haut Kälte (kalte Luft/Wind, Flüssigkeit oder feste Gegenstände) ausgesetzt wurde und anschließend wieder erwärmt wird. Die Veränderungen halten üblicherweise etwa eine Stunde an. In schweren Fällen kann es zu Allgemeinreaktionen bis hin zur Anaphylaxie kommen.
- Wärmeurtikaria (Wärmekontakturtikaria): Bildung von Quaddeln, häufig begleitet von Juckreiz und/oder Brennen, innerhalb von Minuten, nachdem die Haut Wärme ausgesetzt wurde. Diese Form ist sehr selten.
- Druckurtikaria (auch verzögerte Druckurtikaria): Hautschwellung und Rötung, wenn anhaltender Druck auf die Haut einwirkt. Die Hautreaktion tritt innerhalb von 30 Minuten bis zu 12 Stunden nach Provokation auf, zumeist nach sechs bis acht Stunden, und kann bis zu 72 Stunden andauern. Deshalb spricht man auch von „verzögert“.
- Lichturtikaria (solare Urtikaria): Bildung von juckenden und/oder brennenden Quaddeln, wenn die Haut sichtbarem und/oder ultraviolettem (UV)-Licht ausgesetzt ist, wobei die Hautveränderungen üblicherweise innerhalb von wenigen Minuten nach Lichteinwirkung auftreten.
- Urtikaria factitia (symptomatischer Dermographismus): Juckreiz und/oder Brennen der Haut und Entwicklung von strichförmigen Quaddeln nach kräftigem Reiben oder Kratzen der Haut, beispielsweise mit einem geschlossenen Kugelschreiber. Dermographismus bedeutet übersetzt so viel wie Hautzeichnung oder -schrift.
- Cholinerge (cholinergische) Urtikaria: Hautrötung und Quaddelbildung mit Juckreiz nach körperlicher/sportlicher Aktivität und passiver Erwärmung (zum Beispiel durch ein heißes Bad); bei manchen Betroffenen lassen sich auch durch emotionalen Stress und heiße, scharfe Speisen oder Getränke Symptome auslösen. Die Hautveränderungen bleiben in der Regel etwa zwischen 15 und 60 Minuten bestehen.
- Kontakturtikaria: Bildung von Quaddeln oder Angioödemen innerhalb von Minuten (üblicherweise zirka 30 Minuten) nach Hautkontakt mit auslösenden Stoffen
- aquagene (= durch Wasser auslösbare) Urtikaria: Bildung von Quaddeln oder Angioödemen innerhalb von 30 Minuten nach Hautkontakt mit Wasser, unabhängig von dessen Temperatur. Diese Form ist sehr selten.
- Vibrationsurtikaria /-Angioödem (vibrationsinduzierte(s) Urtikaria/Angioödem): Hautschwellungen und Juckreiz unmittelbar (innerhalb von Minuten) nachdem die Haut Vibration ausgesetzt wurde. Diese Form ist sehr selten.
Kälte-, Wärme-, Druck- und Lichturtikaria sowie Urticaria factitia werden manchmal auch unter dem Begriff physikalische Urtikaria zusammengefasst.
Bei der Kontakturtikaria unterscheidet man zwischen einer nicht-immunologischen und einer immunologischen Form. Die nicht-immunologische Form kann beim erstmaligen Kontakt mit dem Auslöser auftreten. Dazu zählen Pflanzen (zum Beispiel Brennnessel), Tiere (zum Beispiel Quallen) oder Chemikalien (zum Beispiel Zimtaldehyd). Die Veränderungen bleiben dabei streng auf die Hautbereiche begrenzt, die mit dem Auslöser in Berührung gekommen sind. Die immunologische Kontakturtikaria hingegen ist eine durch Immunglobulin (Ig)E vermittelte Reaktion auf Eiweiß (Proteine) oder andere Moleküle (zum Beispiel Latex). Hier können sich die Hautveränderungen über den Bereich des unmittelbaren Kontakts hinaus auf den ganzen Körper ausbreiten, und sogar allgemeine (systemische) Reaktionen auftreten.
Weitere Informationen zur Einteilung der Urtikaria finden Sie auch im Kapitel zur Diagnostik.
GUT ZU WISSEN
Ursache für eine Nesselsucht ist nur selten eine „echte“ allergische Reaktion, allerdings spielen pseudoallergische Reaktionen auf Medikamente und Nahrungsmittel eine wichtige Rolle.
Ursachen und Entstehung der Urtikaria
Die Entstehung der Urtikaria ist sehr komplex. Der wichtigste zugrunde liegende Mechanismus ist die Ausschüttung des Botenstoffes Histamin aus Mastzellen in der Haut und/oder Schleimhaut. Histamin und andere Botenstoffe bewirken, dass Immunzellen und für die Sinnesempfindung zuständige Nerven aktiviert werden. Zudem kommt es zu einer Erweiterung der Blutgefäße (Vasodilatation) und infolgedessen einem Austritt von Plasmaflüssigkeit. Dies führt schließlich dazu, dass sich die typischen Hautveränderungen und Schwellungen entwickeln.
Bezüglich der Ursachen für die unterschiedlichen Formen und Unterformen der Nesselsucht ist vieles noch ungeklärt. Zu den bekannten Ursachen für chronische Urtikaria zählen unter anderem Autoimmun-Prozesse (bei denen Autoantikörper gegen körpereigene Strukturen gerichtet sind), Pseudoallergien (nicht-allergische Überempfindlichkeitsreaktionen) gegenüber Nahrungsmitteln oder Medikamenten sowie akute oder chronische Infektionen.
Häufige Ursachen beziehungsweise Auslösefaktoren sind:
- Infektionen im Bereich von Hals, Nase, Rachen oder Zähnen sowie Besiedelung des Magens mit dem Bakterium Helicobacter pylori
- Unverträglichkeitsreaktionen auf natürlich vorkommende Aromastoffe (beispielsweise in Tomaten oder Gewürzen) und seltener auf Konservierungs- und/oder Farbstoffe (Pseudoallergene) und/oder Nahrungsmittel, die viel Histamin enthalten oder dazu führen, dass vermehrt körpereigenes Histamin ausgeschüttet wird (siehe auch Histamin-Intoleranz-Syndrom)
- Autoimmunerkrankungen, beispielsweise Schilddrüsenentzündung (Thyreoiditis)
- Allergie vom Soforttyp (Typ I) auf Nahrungsmittel, bei chronischer Urtikaria (selten)
- Physikalische Reize (zum Beispiel Wärme, Kälte, Druck, UV-Strahlung)
Wie bei vielen anderen Hauterkrankungen kann Stress die Urtikaria verstärken.
Mit Ausnahme sehr seltener Unterformen der induzierbaren Urtikaria wird die Bereitschaft zur Entwicklung einer Nesselsucht nicht vererbt. Die Urtikaria ist auch nicht ansteckend.
Wissenschaftliche Beratung
Prof. Dr. med. Dr. h.c. Torsten Zuberbier
Klinik für Dermatologie, Venerologie und Allergologie
Charité - Universitätsmedizin Berlin
E-Mail: Torsten.Zuberbier@charite.de
Quellen:
Die hier aufgeführten Leitlinien und Aufsätze richten sich, so nicht ausdrücklich anders vermerkt, an Fachkreise. Ein Teil der hier angegebenen Aufsätze ist in englischer Sprache verfasst.
- Magerl, M., et al.: The definition, diagnostic testing, and management of chronic inducible urticarias – The EAACI/GA2LEN/EDF/UNEV consensus recommendations 2016 update and revision. In: Allergy 2016; 71: 780–802
- Staubach, P.: Urtikaria – Update zu Diagnostik, Therapie und Differenzialdiagnosen. In: Allergo J Int 2018; 27: 20–4
- Zuberbier, T., et al.: The EAACI/GA²LEN/EDF/WAO Guideline for the Definition, Classification, Diagnosis and Management of Urticaria. The 2017 Revision and Update. In: Allergy 2018; 73(7):1393-1414
Letzte Aktualisierung:
24. September 2018